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Psychoanalyse
Warum Psychoanalyse?
Auf Schritt und Tritt begegnen jedem von uns tagtäglich
Phänomene, die unserem Wunsch, etwas unmittelbar zu verstehen, Grenzen setzen:
Wie kommt es, dass sich ein für seine herausragende intellektuelle Kritik
bekannter Rhetorikprofessor an seinen NSDAP-Beitritt als junger Mann nicht mehr
erinnern kann? Wie kann es geschehen, dass ein erfolgreicher Liedermacher auf
dem Höhepunkt seiner Karriere sein Leben durch Drogen und Alkohol zu zerstören
beginnt? Warum haben zwei junge Menschen, deren Liebe wie ein Fels in der
Brandung zu sein schien, sich nach wenigen Jahren völlig auseinander gelebt? Wie
kommt es, dass auch intelligente Menschen immer wieder von narzisstischen
Politikern angezogen werden und diesen ihre Stimme geben? Warum töten sich
scheinbar friedliebende Menschen im Namen ihrer religiösen Ideale? Wieso werden
missbrauchte Kinder später selbst häufig zu Vergewaltigern? Warum verliert
jemand an der Börse viel Geld, obwohl er zuvor viele Artikel über die Risiken
von Börsenspekulationen gelesen hat? Warum wählt ein Firmeninhaber einen
untauglichen Manager als seinen Nachfolger, der die Firma innerhalb weniger
Jahre in den Konkurs treibt? Wie kann es geschehen, dass ein erfolgreicher
Mensch eine außereheliche Affäre beginnt und damit seinen Beruf und seine
Reputation aufs Spiel setzt? Wie lässt sich verstehen, dass ein engagierter
Verfechter eines ökologiebewussten Umgangs mit endlichen Ressourcen mit dem
Gedanken liebäugelt, sich ein überdimensioniertes Geländefahrzeug anzuschaffen?
Meistens werden dafür biologische, genetische oder
umweltbedingte Ursachen gefunden wie hormonelle Veränderungen, Midlife crisis,
schlechte Erbanlagen, Gedächtnisverlust, strukturelle Gewalt; aber auch
psychologische Konzepte wie posttraumatisches Belastungssyndrom, kognitive
Dissonanz, Gruppendenken und Herdentrieb werden bemüht, um Unverständliches
erklärbar zu machen.
Es ist naheliegend, dass bei all diesen Themen
psychoanalytische Konzepte und – sofern es sich ergibt – auch psychoanalytische
Praxis und ihre Methoden gefragt sind. Genau genommen gibt es kein menschliches
Thema, bei dem nicht psychoanalytisches Denken und Forschen erforderlich sind
und dies aus einem einfachen Grund: Menschliches Handeln ist immer ein Geflecht
aus bewussten Vornahmen und unbewussten Handlungsgründen, die im Kontext einer
spezifischen Kultur und Gesellschaft entstanden sind. Und da diese als eine Art
biographische Aufschichtung zu denken sind, kommt man ohne eine diachrone
Betrachtung von lebensgeschichtlichen Einflüssen und Verarbeitungsprozessen in
einem bestimmten soziokulturellen Umfeld nicht aus.
Was aber waren und sind immer noch die Gründe dafür,
dass psychoanalytische und im weiteren Sinn tiefenpsychologische Erkenntnisse es
so schwer haben, auf eine breitere Akzeptanz zu stoßen? Ist es die narzisstische
Kränkung, nicht »Herr im eigenen Hause« zu sein, die Freud als
Rezeptionsbarriere formulierte und die in den letzten Jahren interessanterweise
von Hirnforschern wieder geltend gemacht wird, wenn sie behaupten, dass das
bewusste Ich eine illusionäre Größe und die Willensfreiheit eine Fiktion sei?
Sind es die aus forschungstechnischer Sicht sehr viel größeren Schwierigkeiten,
das Unsichtbare unbewusster Vorgänge, die erschlossen werden müssen und nicht
einfach am sicht- und messbaren Verhalten abgegriffen werden können, zu
erforschen? Aber hat schließlich nicht auch die moderne Atomphysik erst einmal
das Zeitalter der klassischen Physik überwinden müssen und letztere wiederum den
unmittelbaren Augenschein des konkret Erfahrbaren? Stellt psychoanalytisches
Denken vielleicht größere Anforderungen an das abstrakte Denken, deren
Konstrukte nicht unmittelbar beobacht- und messbar sind?
Und hängen damit vielleicht auch die Schwierigkeiten im
Denken zusammen, die viele Menschen empfinden, wenn sie sich unbewusste Prozesse
in sich selbst vorstellen sollen? Allenfalls kann man anderen Menschen noch ein
unbewusstes Seelenleben zugestehen, aber sich selbst? Alle Gedanken sind doch
bewusst gedachte und alle Entscheidungen bewusst getroffene. Einzig in einer
übermäßig affektiven Handlung oder in einem z. B. durch äußere Substanzen
veränderten Gehirnzustand lassen sich unbewusste Vorgänge vorstellen. Ansonsten
aber gelten alle Handlungen doch überwiegend als rational geplant. Dass der
Augenschein eines angeblich über sich selbst autonom verfügenden Ichs trügt, ist
mit dem gesunden Menschenverstand nicht zu vereinbaren.
Sollten wir deshalb nicht doch unsere psychische
Entwicklung und unsere geistige Gesundheit ausschließlich biologisch
orientierten Psychiatern überlassen, die uns schon die richtigen chemischen
Dosierungen empfehlen, wenn uns unsere Selbstbeobachtung im Stich lässt? Sind
nicht Stimmungsaufheller heutzutage viel besser geeignet, allgegenwärtige
Depressionen zu bekämpfen? Wozu dann noch eine aufwändige Auseinandersetzung mit
sich selbst? Es sollte uns aber auf jeden Fall aufhorchen lassen, wenn wir
erfahren, dass Psychopharmaka nicht nur bislang noch ungenügend erforschte
Nebenwirkungen für den Menschen zur Folge haben können, sondern auch dass Fische
wie z. B. Barsche aufgrund der gewaltigen Mengen an Arzneimittelrückständen, die
in den Weltmeeren gelandet sind, bereits ein verringertes Sozialverhalten
aufweisen und ihr Immunsystem dadurch verändert wird (Brodin et al., 2013).
Gegen diese introspektive und selbstreflexive
»Denkfaulheit«, die sogar die Ökobilanz zu beeinträchtigen beginnt, wird dafür
plädiert, den Umgang mit den Manifestationen unbewusster Prozesse nicht allein
der pharmazeutischen Industrie oder der neurowissenschaftlichen Forschung zu
überlassen, die uns jeden Tag mit neuen Erkenntnissen überrascht, die freilich
nur auf den ersten Blick wirklich erstaunlich und neu wirken, sondern sich der
Bewusstmachung, der Auseinandersetzung und den »Individuationsaufgaben« zu
stellen. Dies soll heißen, sich quer zu dem derzeitigen Boom der
Neurowissenschaften und Pharmakotherapie mit den psychologischen Phänomenen der
eigenen Existenz im gesellschaftlichen Umfeld, in dem wir gegenwärtig leben, zu
befassen und auseinanderzusetzen… Gewarnt wird vor einer ausschließlich
instrumentellen und auf technische Verwertung abzielenden Naturbeherrschung der
positivistischen Wissenschaften, die ungeachtet aller nicht mehr wegzudenkender
Erleichterungen, die der wissenschaftlich-technische und medizinische
Fortschritt mit sich brachte, nicht nur bedauernswerte reflexive und ethische
Leerstellen hinterlassen, sondern auch die Gefahr einer potenziell sich selbst
zerstörenden Menschheit hervorgebracht hat, deren Anzeichen nicht mehr zu
übersehen sind. Vor allem die psychoanalytische Kulturkritik hat mit
unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen immer wieder auf die Grenzen eines
überwiegend an ökonomisch verwertbaren Fakten orientierten Menschen- und
Weltbildes aufmerksam gemacht.
So ist die Gefahr nicht ganz von der Hand zu weisen,
dass auch im Bereich der Psychotherapie eine unpersönliche und von
Sinnzusammenhängen abgeschnittene Zweckrationalität Einzug halten könnte, die
dann die Ausgangsbasis für ökonomische Kosten-Nutzen-Analysen darstellen soll.
Da viele heutige Menschen sich vermutlich in ihrem Selbstverständnis nach
derartigen Vorgaben zu modellieren beginnen und in der Konsequenz ihre eigenen,
zutiefst menschlichen Belange als überflüssig empfinden, wenn sie sich nicht
einem unmittelbaren Verwertungs- und Karriereinteresse unterwerfen lassen,
werden ethische und politische Dimensionen in der psychoanalytischen
Kulturkritik von großer Brisanz.
Zwar mutet das Eintreten für eine Erkenntnishaltung,
die einer humanistischen und aufklärerischen Disziplin verpflichtet ist,
gelegentlich wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel an, aber dennoch darf das
Einstehen für eine andere Erkenntniskultur nicht aufgegeben werden. Damit wird
einer überwiegend zweckrationalen und instrumentellen Wissenschaftsauffassung
und ihrer von ökonomischen Eliten gesteuerten Verwertungspraxis eine Auffassung
entgegengesetzt, die sich vor allem durch Respekt vor der Eigengesetzlichkeit
und Autonomie innerer wie äußerer Natur charakterisieren lässt.
(aus: Mertens, W.,
Psychoanalyse im 21. Jahrhundert - Eine
Standortbestimmung, 2014)
Willkommen auf der Couch:

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