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Auf der Suche nach Sinn
Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie
„Philosophie ist eigentlich Heimweh - Trieb, überall zu Hause zu sein.“ So meinte der Dichter NOVALIS (1772-1801) einmal.
Als Liebe zur Weisheit kennen wir diese Jahrtausende alte Sehnsucht der Menschen, die seit ihren Ursprüngen nie aufgehört haben,
die ewig gleichen Fragen zu stellen, ohne darauf offenbar jemals endgültige Antworten zu finden.
Fragen nach dem eigenen Dasein, nach seinem Grund, seinem Ziel, seiner Bedeutung. Nach dieser Welt, in der wir leben und
sterben, in der wir uns einsam und geborgen fühlen können, allein sind oder inmitten einer Gemeinschaft von anderen Menschen.
In der wir durch die Freuden und Leiden unserer Existenz die beständige Erfahrung jenes Zwiespalts unserer Stärke und unserer
Hilflosigkeit machen.
So ließe sich, mit KANT (1724-1804) zu sprechen, ...das Feld der Philosophie auf folgende Fragen bringen: 1. Was kann ich wissen? –
2. Was soll ich tun? – 3. Was darf ich hoffen? – 4. Was ist der Mensch?
- wobei wohl diese letztgenannte, wenn es gelänge, sie zu beantworten, alle anderen sogleich erübrigen würde. In ihr verborgen
sind freilich noch unendlich viele andere konkrete Fragen, stellen sich doch die Probleme immer dann, wenn ich zu einer
Entscheidung aufgefordert bin, von neuem – und das ist, recht besehen, in jedem Augenblick wieder der Fall. Denn jede neue
Situation ist wie eine neue Frage, die eine ganz persönliche, einmalige und nur von mir zu gebende Antwort verlangt.
Haben Philosophen auch immer wieder versucht, stellvertretend für alle, mehr oder weniger ausführlich und systematisch,
letztgültige Antworten zu treffen, von denen fortan auszugehen sei, wird doch spätestens in einer persönlichen Krise allzu
deutlich, wie wenig uns überlieferte Ansichten helfen, wo es doch ganz darauf ankommt, daß wir allein die uns entsprechende
Antwort wählen.
Im Angesicht von Krankheit und Not, die uns selbst betreffen, oder im Gefühl von Unaufrichtigkeit und persönlicher Schuld,
kann nur die eigene Lebenssituation einen Weg weisen, nur das eigene Gewissen zur Umkehr mahnen - da sind wirklich alle
gleichviel Philosophen, und jede Bevormundung durch andere wäre vermessen.
Eine Philosophie, die Gebote erläßt und Vorschriften aufstellt, die auf Prinzipien beharrt und unverlangte Ratschläge erteilt,
hat ihren lebendigen Kern verloren, der jener fragende Mensch ist, von dem sie ausging. So wird sie zum Dogma, zur Ideologie.
Im besten Fall bleibt sie wenigstens so verschroben, daß niemand sie versteht, trägt sie höchstens noch mehr zu jenem Klischee
weltfremden Grübelns bei, das ihr seit THALES von Milet (625-545 v. Chr.) anhaftet, jenes oft als erster Philosoph bezeichneten
Mannes, der vor lauter „Himmelguckerei“ den Brunnen vor seinen Füßen nicht bemerkte und hineinfiel.
Gegenüber dem Spott der thrakischen Magd, die ihn auslachte, ergriff jedoch PLATON (427-347 v. Chr.) die Partei von Thales,
weil er in solchem Mißgeschick ein unvermeidliches Los jedes Philosophen sah.
Der gleiche Spott trifft alle, die in der Philosophie leben. Denn in Wahrheit bleibt einem solchen der Nächste und der
Nachbar verborgen, nicht nur in dem, was er tut, sondern fast auch darin, ob er ein Mensch ist oder irgend ein anderes
Lebewesen...Wenn er vor Gericht oder irgendwo anders über das reden muß, was zu seinen Füßen oder vor seinen Augen liegt,
ruft er Gelächter hervor, nicht nur bei den Thrakerinnen, sondern auch beim übrigen Volk; aus Unerfahrenheit fällt er in
Brunnen und in jegliche Verlegenheit; seine Ungeschicklichkeit ist entsetzlich und erweckt den Anschein von Einfältigkeit.
Was aber der Mensch ist, und was zu tun und zu erleiden einem solchen Wesen im Unterschied von den anderen zukommt, danach
sucht er und das zu erforschen müht er sich.
Schon damals also diese verhängnisvolle Trennung von Theorie und Praxis, von dem Menschen an sich und dem unmittelbaren Nächsten.
Offenbar gehört es seither zu einer verbreiteten Ansicht über den Philosophen als einen so sehr an abstrakten Fragestellungen
Interessierten, daß er sich darüber - sozusagen zwangsläufig - als jener konkrete Mensch, der er selbst ist, fremd oder
zumindest gleichgültig werden muß.
„Ich weiß, daß ich nichts weiß“ war die berühmte Maxime des SOKRATES (469-399 v. Chr.), der selbst keinerlei Schriften hinterließ,
sondern allein in seinen Gesprächen mit den Menschen bemüht war, jede voreilige Gewißheit zu durchkreuzen und die Suche nach
der Wahrheit als die einzig sichere Aufgabe jedes einzelnen zu betonen.
Wenngleich sich darin auch gelegentlich recht autoritäre Züge entdecken lassen, ist doch in seinen Dialogen eine lebendige
Bewegung des Philosophierens spürbar, das auf ganz elementare Weise um eben jene Fragen kreist, vor die sich jeder von uns,
heute so gut wie vor 2500 Jahren, immer wieder gestellt sieht.
Immer wieder stieß das Philosophieren auf jenen Gegensatz von Körper und Seele, jenes Spannungsverhältnis zwischen den
instinkthaften, unmittelbaren Bedürfnissen der physischen Existenz mit der besonderen Befähigung des Menschen zu einem
reflektierenden Denken, mit seiner Phantasie und seiner Vernunft. Und ebenso häufig versuchte man, diesen Zwiespalt zur
einen oder anderen Seite hin aufzulösen, indem entweder der sinnlich-empirischen oder der Ideenwelt des Geistes höhere
Priorität eingeräumt war, ja das menschliche Wesen jeweils mit ihr identifiziert wurde.
Gerade so, als ob es unerträglich schien, die Spannung eines Fragens ohne eindeutige Antwort zu ertragen, die
andauernde Zerrissenheit zwischen den Polen des Eingebundenseins in die Natur und der Freiheit eines sich darüber
erhebenden Denkens immer neu aushalten zu müssen, wurden zu allen Zeiten und von den unterschiedlichsten Philosophen
andauernd letzte Erklärungen abgegeben.
Beflügelt von der fortschreitenden Entwicklung der Naturwissenschaft und damit am Beginn des sogenannten neuzeitlichen
Denkens, unternahm - zweitausend Jahre nach Sokrates - Rene DESCARTES einen folgenschweren Systementwurf.
Nach dem Vorbild der Mathematik wollte er auch der Philosophie eine gleichfalls zwingende Logik und Exaktheit verschaffen,
wobei ihm die Rationalität des Menschen, nachdem er ihr Vorhandensein ebenso wie die Existenz Gottes bewiesen zu haben
meinte, als Quelle absoluter Gewißheit galt.
Aus diesem Geist heraus trat ein materialistisches Denken seinen Siegeszug an, dessen Selbstüberschätzung erst in
unserem Jahrhundert an den katastrophalen Folgen blinder Naturwissenschaft- und Technikgläubigkeit ihre Grenzen zu
begreifen begann.
Als verhängnisvoll erwies sich wiederum gerade jene scharfe Trennung des erkennenden Verstandes von einer beherrschbaren
Ding-Welt, zu der auch der eigene Körper gerechnet wurde. Wenn sich der Mensch auch mit scheinbar erstarktem Selbstbewußtsein -
nach den gottesfürchtigen Zeiten des Mittelalters - nun um die konkrete Erforschung seiner Lebensbedingungen zu bemühen begann,
statt sich in willkürlichen Spekulationen zu verlieren, mußte offenbar erneut - nur mit anderen Vorzeichen - die überhebliche
Ratio das letzte Wort behalten.
Daran konnte auch Kants fundamentale Kritik dieses Vermögens nichts ändern, zementierte doch auch er nur weiter jenen
Dualismus zwischen wahrer Welt und Scheinwelt, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, worüber er schließlich noch seinen
alles überdeckenden Mantel der Pflicht breitete, als einem Gebot, vernünftig zu sein.
Mit einer moralisierenden Bevormundung durch die Philosophie, mit den scheinbar zwingenden Beweisen einer Vernunft,
die immer wieder verbindlich angeben zu können meinte, was zu tun und zu lassen sei, versuchte Friedrich NIETZSCHE
(1844-1900) ein für allemal Schluß zu machen. Die ständigen Unterscheidungen zwischen eigentlich und uneigentlich,
wahr und falsch, Ding an sich und Erscheinung, zwischen Geist und Natur, sah er als
vollkommen willkürlich und als bloßes Herrschaftsinstrument an: Schwache, im Grunde lebensverachtende Menschen wollten sich auf
diese Weise eine Bedeutung verleihen und durch ihre dogmatisch behaupteten Vernunftprinzipien andere in die Abhängigkeit zwingen.
Dagegen verkündete Nietzsche sein Ideal des Übermenschen, der ganz frei und autonom im Einklang mit der Natur zu leben
vermag, angetrieben von jenem einzigen Drang, der angeblich alles Weltgeschehen - so auch den Menschen - durchwalte, jene
fortwährende Selbstüberwindung, die er als Wille zur Macht bezeichnete. Einzig dieser ursprünglichen, einheitlichen Kraft
in ihrem unendlichen Kreislauf von Werden und Vergehen gelte es sich zu unterstellen, doch damit freilich beuge man sich
nicht fremder, angemaßter Autorität, sondern dem Leben selbst gegenüber.
Gegen die Vernunft des Geistes wurde eine solche des Leibes auszuspielen versucht, der von da an als letztes Sinnkriterium
zu gelten habe. Und in der Ablehnung bisheriger Einseitigkeiten verstieg sich auch Nietzsche schließlich zum Postulat eines
absoluten Prinzips, das die Welt erklärbar machen und damit Antwort auf alle Fragen nach ihrem Sinn geben sollte.
Immer wurde so die Bedeutung des einzelnen auf die eines Ja-Sagers reduziert, war seine ganz konkrete, persönliche Situation,
in der sich alle Fragen und Konflikte zuerst und in unvertretbarer Weise stellen und nach seiner eigenen Antwort verlangen, für
nichtig und aus-tauschbar erklärt - auch wenn das häufig bloß indirekt, durch ihr Verschweigen geschehen sein mochte.
Gegenüber allen Tendenzen zu letzten Erklärungen und stellvertretenden Antworten erhob schließlich die Existenzphilosophie
ihre Stimme, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den einzelnen aus den Fesseln jedweder Bevormundung zu befreien und ihn angesichts
jener zentralen Fragen seines Daseins endlich wieder sich selbst zu überantworten. Keine Theorie und keine Autorität könne ihm
die Auseinandersetzung mit den Grenzsituationen abnehmen, mit dem Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit, eigener Schuld, eigenem
Versagen beispielsweise, und nur die selbständige Suche nach deren Sinn vermittle ein Empfinden von Freiheit und Verantwortung.
Wenn darin aber im Grunde das Ziel aller Philosophie läge, wenn sie doch nichts anderes wolle, als mit ihrer ganzen Anstrengung
jene Kraft des suchenden menschlichen Geistes zu bezeugen, der um die Wahrheit ringt, müßte sie alles tun, um ihre eigene Erstarrung
in Dogmen und Systemen zu vermeiden. Dann ginge es nämlich vielmehr darum, einen Zustand zu beschreiben, eine Haltung dem Leben
gegenüber auszudrücken: die Liebe zur Weisheit als die Würde jedes Menschen, vor den abgründigen Rätseln dieser Welt seine ganz
persönliche Antwort finden zu können.
Das ist weder an eine bestimmte Form noch eine bestimmte Methode gebunden, und ebenso wie zwischen Gefühl und Vernunft
verfließen dabei auch die Grenzen von Philosophie und Dichtung. Denn hinter allen Fragen steht der ganze Mensch mit
seinen unterschiedlichen Sehnsüchten, die allein das Verlangen nach der Freiheit vereint im Kampf gegen jede Art der
Gewalt als ihrem größten Widersacher.
Der Mensch befindet sich in jedem Augenblick in einem Spannungsverhältnis zwischen den Polen möglicher Erkenntnis und
abgründigen Zweifelns, da jene Fragen auf der Suche nach Sinn, die sich ihm unvermeidlich stellen, zugleich seine Größe
und sein Elend bezeugen, so wie es PASCAL (1623-1662) einst ausdrückte.
...es ist sicher, daß die Menschen in dem Maße, wie sie Einsicht haben, sowohl Größe als auch Elend im Menschen finden.
In einem Wort: der Mensch erkennt, daß er elend ist: er ist also elend, weil er es ist; aber er ist sehr groß, da er es erkennt...
Denn schließlich, was ist der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein Alles im Hinblick auf das Nichts,
eine Mitte zwischen Nichts und Allem. Unendlich entfernt davon, die Extreme zu begreifen, sind ihm das Ende der Dinge und ihr
Ursprung unüberwindlich verborgen in einem undurchdringlichen Geheimnis; er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu sehen, aus
dem er gezogen ist, und das Unendliche, in das er verschlungen ist...
Erkennen wir daher unsere wahre Reichweite: wir sind etwas und sind nicht alles...
Ich tadle gleicherweise die, welche sich entschließen, den Menschen zu loben, und die, welche sich entschließen, ihn zu tadeln,
und die, welche sich entschließen, sich zu zerstreuen; und ich kann nur die billigen, die mit Seufzen suchen.
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